The (Un)Wonted´s

Kapitel 34: Undercover

Heimat des Fortschritts, Progressia

Ein paar Tage nachdem sich Ralph, Oxana und ihre Jungs im Theater Hollywood eingerichtet hatten, machte im Bierstier ein Gerücht die Runde. Dabei ging es um illegale Spaceboard-Rennen, welche im Luftraum Progressias stattfanden und für reichlich Unruhen sorgten.
Spaceboards waren im Grunde das technische Gegenstück zu V’s Manaboards. Sie erlaubten einem durch die Luft zu sausen und saucoole Tricks zum Besten zu geben. Wenn man das alles nun aber im regulären Verkehr der Stadt betrieb, war Chaos vorprogrammiert.

Natürlich wussten die (Un)Wonted’s nicht, ob an dem Gerede auch etwas dran war, aber es gab ihnen Grund genug, der Sache nachzugehen. Schließlich würde die Stadt für die Sicherheit ihrer Straßen bestimmt eine ordentliche Summe springen lassen.
So verschwand Dicy kurzerhand in den dunklen Ecken der Unterstadt und suchte ihre Kontakte auf, welche ihr bei derartigen Angelegenheiten stets mit vertrauenswürdigen Informationen zur Seite standen … meistens … hin und wieder…
Zumindest dieses Mal trafen ihre Quellen mitten ins Schwarze.
Sie fand heraus, wo das erste Rennen des nächsten Turniers ausgetragen werden soll und dass die einzigen Teilnahmebedingungen das pünktliche Erscheinen an diesem angeblich streng geheimen Ort und ein funktionstüchtiges Spaceboard waren.

Damit war ihr Auftrag klar!
„Wir infiltrieren die Untergrund-Rennen, finden heraus, wer für sie verantwortlich ist und händigen die Person an die Behörden aus“, erklärte V bei der Abschlussbesprechung.
„Und nebenbei gewinnen wir das Turnier und kassieren doppelt ab!“, fügte Dicy siegessicher hinzu.
„Beginnen wir mit Operation: Dem illegalen Skaten das Handwerk legen!“, kommentierte Eddy mit geballter Faust.
Und bereits einen Moment später waren alle Gildenmitglieder an der Arbeit. Ralph werkelte ununterbrochen an einem Spaceboard, welches alle anderen in den Schatten stellen sollte. V übte mit Dicy das Skaten, da er mit seinem Manaboard zwar über die meiste Erfahrung verfügte, allerdings keinen blassen Schimmer von den notwendigen, technischen Aspekten eines Spaceboards hatte. Oxana und ihre Gang machten sich mit dem Bauplan und der Technik des Boards vertraut, da sie im Notfall, unter Ralphs Führung, als Mechaniker-Team herhalten mussten. Bark und Eddy war vorbehalten, sich während der Rennen unter die Leute zu mischen und ihnen weitere Infos aus der Nase zu locken.

Schon bald war die Zeit des ersten Rennens gekommen und alle waren gespannt darauf, endlich zur Tat zu schreiten.
An der Startlinie, welche sich oben, auf dem Dach eines Wolkenkratzers, unter dem Mondschein von Terra und Aqua, den Zwillingsmonden Progressias, befand, erklärte man jedem Teilnehmer kurz und knapp die Regeln.
„1. Es gibt keine. Viel Spaß!“
Daraufhin kam eine hübsche, großbrüstige, junge Dame mit zwei Fahnen in den Händen und stellte sich an den Rand des Daches. Sie hob die Arme in die Luft und riss sie anschließend, mitsamt ihrem Oberkörper, Richtung Boden.
Eine laute Tröte erklärte das Rennen für begonnen.

Urplötzlich sausten die Skater los, direkt über die Dachkante hinweg in die Tiefe. An der Fassade des Wohngebäudes zogen sie ihre Kreise und fuhren weiter herab, bis sie die Höhe der Luftstraße erreichten, wo ihnen fliegende Autos, selbststeuernde Taxis, Shuttle-Busse und andere Gefährte entgegenkamen. Sie rasten an ihnen vorbei, sprangen über sie hinweg und bogen ab, wenn ihre Mindmap, eine gedankliche Projektion der Rennstrecke, es ihnen voraussagte.
Sie jagten sich durch die Stadt und ließen dabei keine Chance unversucht, ihre Kontrahenten auszuschalten. So wurde dauerhaft mit Blastern herumgeballert, Rauchgranaten geworfen oder elektromagnetische Impulse gesendet, welche neben der eben erwähnten Mindmap, auch die Verkehrssignale lahmlegten. Was immer noch besser war, als in das Kreuzfeuer zweier Skater zu geraten.

Trotz all der Widrigkeiten und Dicys Unvermögen als Rennskaterin schaffte es das Team der (Un)Wonted’s bis in das Halbfinale des Turniers. Sie war auf dem vierten Platz und bereits auf der Zielgeraden, allerdings sollten nur die ersten Drei ins Finale vorrücken. Vor ihr lag lediglich ein weiteres Hochhaus, an welchem links oder rechts vorbeigeflogen werden musste. Direkt dahinter befand sich die Ziellinie.
Auf Platz 1 lag Hamiltron. Er galt als absoluter Favorit, gewann bis jetzt jedes Rennen und war bereits im Ziel.
Um Platz 2 kämpften gerade Handschuhmacher und Cheers, dicht gefolgt von Dicy.
„Nur noch zweihundert Meter, Dicy!“, teilte V ihr über einen Ohrstecker mit.
„Ich weiß, vielen Dank!“, zischte sie gestresst zurück.
„Gib Gas! Du musst mein Baby endlich mal ordentlich rannehmen und nicht fahren wie meine…“, schrie Ralph dazwischen, bevor das Signal abbrach.
„Scheiß EMP!“, fluchte Dicy.
In diesem Moment verweigerte auch die imaginäre Karte, welche durch einen Mikrochip in ihr System hochgeladen wurde, den Dienst. Doch das war egal. Für sie gab es ohnehin nur noch einen Weg, nicht auszuscheiden…
„Drauf geschissen!“, beschloss sie.
… und das war Vollgas!

Sie betätigte den roten Kippschalter, auf dem ein giftgrünes Strahlenwarnzeichen abgebildet war, ihrer mechanischen Hand und aktivierte damit die Einspritzung der schwarzen Materie. Dann knallte es unter ihren Füßen und es fiel ihr schlagartig unheimlich schwer, nicht Hals über Kopf von ihrem Board zu segeln. Sie verstärkte die magnetische Anziehung zu ihrem Brett, um der enormen Beschleunigung und der ohnehin halsbrecherischen Geschwindigkeit standzuhalten. Und dann schloss sie langsam, aber sicher zu ihren Kontrahenten auf.

Handschuhmacher und Cheers waren weiterhin ineinander verkeilt und dachten nicht einmal daran, dem Anderen den Vortritt zu lassen. Sie versuchten, sich mit Schlägen ihrer Exoskelette oder schnellen, präzisen Hacks der feindlichen Software von ihrem Widersacher zu lösen und ihm den nicht vorhandenen Dreck der eigenen Hinterreifen schmecken zu lassen. Jedoch kam Dicy von hinten herangebraust, rauschte mitten durch die Beiden hindurch und zwang sie so auseinander. Nun musste Handschuhmacher links am Gebäude vorbei und Cheers rechts. Für Dicy wiederum, welche bei der Aktion völlig die Kontrolle verlor, gab es nur noch eine Option. Mitten durch!

Als sie durch das erste Fenster krachte, fand sie sich selbst in einem Fitnessstudio wieder. Geistesgegenwärtig wich sie den Hantelbänken, Laufbändern und breit gebauten Athleten aus. Wenn eine Kollision nicht zu vermeiden war, schoss sie mit ihrem linken, zum Blaster transformierten und auf Schwerkraft eingestellten Arm auf das Hindernis. Das Ziel war dadurch für wenige Minuten nicht von der Anziehungskraft des Planeten betroffen und schwebte von alleine aus dem Weg. So schaffte sie es bis an das Ende des Gyms, schepperte durch die nächste Glasfassade und landete in einem Großraumbüro.
„100 … ter no…“, knarzte es elektrisch in Dicys Ohr.
Genau dann trat ein Angestellter mit einem Stapel Dokumente in den Flur, durch welchen sie gerade peitschte. Trotz des Regens aus herabfallenden Arbeitsblättern, Dienstanweisungen, Kündigungen und Gehaltskürzungen, gelang es Dicy, den Schreibtisch zu erkennen, auf den sie voll drauf zu heizte. Blitzschnell löste sie die magnetische Verbindung zu ihrem Board und sprang. Sie hüpfte über den Arbeitsplatz hinweg, während ihr Brett darunter hindurch sauste. Dahinter kam sie festen Fußes wieder auf ihm zu stehen und wunderte sich selbst über ihr gymnastisches Kunststückchen, welches sie sich vorher nicht zugetraut hätte. Voller Ekstase und Adrenalin übersah sie blöderweise die Reihe steinzeitlicherFaxgeräte, welche sich vor ihr aufbaute.

Sie hämmerte auf Hüfthöhe und mit voller Wucht in die Maschinen hinein. Ihr Board machte eine abrupte Vollbremse und kam in den Trümmern zum Stehen. Dicy hingegen schleuderte es kopfüber weiter. Sie drehte sich pausenlos um ihre eigene Achse und verlor längst jegliche Koordination. Ein weiteres Mal zersprang Glas. Plötzlich wurde sie immer wieder von vorbeiziehenden, stroboskopischen Lichtern geblendet. Dann schlug sie mächtig ungemütlich auf dem Dach eines anderen Gebäudes auf, das Gesicht als Bremsbacke missbraucht und den Po gen Sternhimmel gerissen. In ihrem Augenwinkel erkannte sie, dass V, Ralph sowie Oxana und ihre Jungs über ihr standen.

„Herzlichen Glückwunsch, gerade rechtzeitig!“, gratulierte der Gildenmeister breit grinsend.
V streckte seiner Freundin eine offene Hand entgegen und half ihr beim Aufstehen. Im Hintergrund fuchtelte Ralph wie wild in der Luft umher und instruierte Oxana damit, unverzüglich das verschollene Spaceboard zu bergen.
„Ich hab’s echt geschafft?“, fragte Dicy ungläubig.
„Ja. Du kamst in einem Affenzahn aus dem Haus geflogen, hast an die tausend Salti gemacht, glücklicherweise keins der vorbeifahrenden Autos mitgenommen und bist als Zweite auf diesem Dach gelandet“, beschrieb er die Ereignisse.
„Also geplant war das so jedenfalls nicht“, sagte Dicy und rieb sich dabei schmerzverzerrt den eingedellten Schädel.
„Handschuhmacher kam kurz nach dir rein“, fügte V hinzu und nickte in seine Richtung.

„Was ist mit Cheers?“
„Den hat’s erwischt“, er stockte für eine Sekunde. „Gab eine heftige Explosion. Vermutlich ist er nach der Kurve direkt in was reingefahren und … Boom. Seitdem ist das Signal weg.“
„Fuck!“, schimpfte sie. „Was sagen die Veranstalter?“
„Die haben sich längst vom Acker gemacht“, antwortete V Augen verdrehend. „Und wir sollten das auch tun. Hier wird es jeden Moment nur so von Gilden wimmeln, die den Unfall untersuchen wollen.“
„Und Hamiltron?“, wollte Dicy noch wissen, als sie den Ort des Geschehens zügig verließen.
„Der kam locker fünfzig Sekunden vor dir ins Ziel und verzog sich sofort. Wie immer.“
„Irgendeine Idee, wie wir den im Finale schlagen sollen?“
„Keine Einzige“, entgegnete er schulterzuckend.
„Spitze…“

Hamiltron war eine Legende im Untergrund-Rennsport. Egal ob beim Spaceboard, der Formel Omega oder in Podrennen, wenn er antrat, gewann er auch. Er war ein eigentlich altes Modell der Android-Reihe, welches auf genau zwei Sachen programmiert war. Motorsport und Gewinnen, so simpel wie effektiv. Wer ihn erschuf, weiß niemand. Jedoch wurde den (Un)Wonted’s in der kurzen Zeit, die sie mit ihm zu tun hatten, eine Sache glasklar. Er war eine unerklimmbare Mauer, eine undurchdringbare Wand, ein unbesiegbarer Feind, den es im Finale zu besiegen galt.
„Mach dir darüber keine Gedanken…“, beruhigte V. „… Vorher muss Oxana dein Brett finden, andererseits ist die Geschichte eh gelaufen.“
„Fantastisch. Du bist so motivierend wie Krebs im Endstadium.“
„Ich mach’ doch nur Spaß!“, lachte er. „Treffen wir uns erst mal mit Eddy und schauen, was er herausgefunden hat.“

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