The (Un)Wonted´s

Kapitel 2: Heimat

Prolog

Progressia war in zwei Ebenen geteilt, zwei Etagen, sozusagen. Oben, auf einer riesigen Plattform, welche den gesamten Planeten in einen metallenen Kokon hüllte, lebten die Reichen und Schönen, die das nötige Kleingeld hatten, um sich in der Sonne zu baden und um im kristallklaren Wasser zu schwimmen. In ihren mehrstöckigen Luxusapartments genossen sie ihre fantastische Aussicht, trafen sich zum Brunch oder zum Lasertennis, gingen mit ihren Schoßhündchen Gassi oder flogen in ihren Sportschlitten durch die Wolken und spürten den Wind in den Haaren. Abgeschottet durch einen meterdicken Stahlbetonboden lebte hier die Elite getrennt vom Rest der Welt.

Unter ihnen, auf dem Boden, lebte die absolute Mehrheit der Bevölkerung in Wellblechhütten, im Schlamm und Dreck und von Essensresten, welche es an guten Tagen vom Himmel regnete. Die Menschen hier unten hielten sich mit krummen Dingern, schmutzigen Deals oder mit Geschäften außerhalb Progressias über Wasser. Wer es auf die ehrliche Weise versuchte, schuftete bis ins hohe Alter in einer der unzähligen Minen, um letztendlich bei einem nächtlichen Überfall für einen Schluck Wasser erschossen zu werden. Und irgendwo in diesem Drecksloch, stand ein altes, verlassenes Theater, welches unsere Helden voller Stolz ihr Zuhause nannten.

Dicy tippte in Sekundenschnelle das zweihunderteinundfünfzigstellige Passwort, welches zum Öffnen der Eingangstür und zum Entsichern der Alarmanlage diente, ein.
Eigentlich war der Alarm nutzlos, da es hier unten ohnehin keine Polizei oder so gab. Ihr einziger Zweck bestand darin, im Falle eines Einbruchs möglichst viel Krach zu veranstalten, um die umliegenden Drogenbanden, Schutzgelderpresser und Schlägertypen anzupissen. In der Regel kehrte dann wieder Ruhe ein, bevor etwas aus dem Theater entwendet werden konnte. Nicht, dass es etwas von Wert in ihm zu holen gegeben hätte.
„Home! Sweet Home!“, trällerte Dicy und trat die Türen auf.
„Macht sie das jedes Mal, wenn wir heimkommen?“, wunderte sich Eddy.
„Meistens. Du gewöhnst dich dran“, klärte V auf.
Die beiden Jungs gingen an der Hausherrin vorbei, welche noch immer mit hochgerissenen Armen ihr Eigenheim präsentierte.
„Etwas mehr Begeisterung, die Herrschaften, sonst verlang´ ich demnächst Miete!“

Sobald man einen Schritt in das baufällige Gebäude setzte, erahnte man bereits dessen Alter. Egal wohin man trat, mit hundertprozentiger Sicherheit knarzte eine Diele. Oder sie brach. Der Geruch von modrigem Holz und Schimmel in den Ecken war so dominant, dass man fürchten musste, er krieche einem gleich von selbst in die Nase. Und zu guter Letzt teilten sie sich ihre Junggesellenwohnung mit Milben in den Sitzbezügen, Ratten im Keller und einigen Vögeln im Dachstuhl.
„Wir sollten Geld von dir bekommen, damit wir nicht verschwinden.“
„Hihihi“, kicherte Eddy. „Der war gut, V.“
„Dann verschwindet doch, los. Von mir aus könnt ihr gern nach Hause gehen.“
Daraufhin schauten die Beiden in ihre ängstlichen und besorgten Gesichter und drehten sich anschließend zurück zu Dicy.
„Scheiße, nein!“, antworteten sie synchron.
„Dacht’ ich mir schon.“

Dicy spazierte zur Bühne, auf der sie sich eine kleine Werkstatt einrichtete. Dort schraubte sie an ihren Modifikationen und Prothesen herum. Ihre finanziellen Mittel erlaubten zwar keine großen Upgrades, doch mit ihren Ideen ließen sich immer ein paar Prozente rausholen. Die mechanischen Adleraugen zoomten weiter, der Mikrochip im Kopf machte die Reflexe noch einen Tick flotter und der rechte Arm konnte mittlerweile locker mit einem Bären konkurrieren. Ein kleiner Roboterhund, genannt Robb, hielt ihr ab und an einen Zigarettenstummel entgegen, an dem locker noch drei-vier Züge zu holen waren. In vergangenen, hoffnungsvolleren Tagen baute sie ihm eine Mikrowelle in den Bauch, mit der sie ihr Essen erhitzen wollte. Heute weiß sie, dass sie sich die Arbeit hätte sparen können.

V nannte die rechte Hälfte des Zuschauerraums sein Reich. Diese Seite war mit tragenden Balken umkreist, da über ihnen wohl mal eine Loge geplant, aber nie fertiggestellt wurde. Zwischen die tragenden Säulen nagelte er einige Bretter, die Tag für Tag mehr Bücher tragen mussten. Wie viele es genau waren, wusste wohl nur er. Jedenfalls verschwand er hinter diesen Bücherwänden gänzlich und konnte ungestört in seiner Literatur versinken. So wie er es am liebsten tat. Und am liebsten las er Zauberbücher. Bücher über die Geschichte der Magie, Bücher mit neuen Zauberformeln, Bücher über die Elementare und Geister, Bücher über Runenkunde, Bücher über magische Theorie, Bücher über magische Praxis. Aber vor allem Bücher, die er irgendwie zwischen die Finger kriegte. Je älter, desto besser.

Eddy dagegen wusste noch nicht, wie er sich seine Zeit am besten vertreiben sollte. Als neuster Mitbewohner des Theater Hollywoods, war er noch dabei sich einzuleben. Vor kurzem wohnte er noch bei seinen Eltern, oben, da waren seine Tage schon Wochen im Voraus verplant. Morgens, vor der Schule Cardio, frühstücken und dann zum Unterricht. Bestnoten wurden zwar selbstredend erwartet, allerdings nur selten geliefert. Nach der Schule begann dann das richtige Training, um den Kopf freizubekommen. Danach wurde er mit Flugsimulationen und Militärtheorie wieder gefüllt. Wenn sein Vater mal freihatte, dann ging es in eine echte Maschine. Als es Eddy zu viel wurde und er von zu Hause weglief, wandte er sich an seine Freundin Dicy. Sie nahm ihn ohne zu zögern bei sich auf. Seitdem lebten die Drei zusammen. Und nun, da ihre gemeinsame Zeit an der Akademie vorbei war, fürchtete Eddy auch diese Familie zu verlieren.

„L-l-leute, ich möchte ja bloß u-u-ungern, wie unser Herr Lehrer klingen, a-a-aber wir müssen dringend …“
„Wie oft wollen wir noch beleidigt, ausgelacht oder vertröstet werden, mh? Wir finden kein Team, das uns aufnimmt. Schon gar nicht uns alle.“ unterbrach Dicy, welche gerade an ihrem Handgelenk herum schweißte.
„Aber wieso? Du bist doch mindestens genauso schlau und talentiert, wie die anderen Techies, oder nicht?“
„Ich bin schlauer, talentierter, begabter und noch dazu wunderschön. Ich kann alles, was diese Flachpfeifen auch können, nur besser. Genau deswegen will mich auch niemand. Sie können es einfach nicht akzeptieren, dass jemand aus der Unterschicht besser ist als sie. Also gibt man mir lieber von vornherein keine Chance.“
„O-o-okay, schön, das kann ich ja irgendwie noch verstehen, aber was ist f-f-falsch mit dir, V?“
„Ich mag zwar schon als kleiner Junge meinen arkanen Kern geformt und Mana entwickelt haben, doch das Ausbleiben einer Elementaraffinität macht mich zum Krüppel.“
„Kannst du das ü-ü-übersetzen?“
„Normalerweise sind Magier mit einem, meist zwei und selten noch mehr Elementaren verbunden. Das bedeutet, während ein Magier Feuerzauber wirken kann, beherrscht ein anderer Wassermagie. Irgendwo wird es einen Zauberer geben, der sowohl Feuer- als auch Wassermagie zu nutzen versteht und dadurch Dampf- oder andere Kombinationszauber wirken kann. Ich für meinen Teil bin lediglich in der Lage elementar neutrale Magie einzusetzen. Soweit klar?“
„Klar!“
„Gut. Und um die Geschichtsstunde nicht länger als nötig zu machen, kommen wir zum Kern der Aussage. Ein Magier ohne ein einziges Element ist unvollständig und fehlerhaft, kurzum, er ist eine Schande.“
„E-e-eventuell sind das Gründe, weshalb ihr kein Team findet, aber was ist mit mir? Ich w-w-weiß noch nicht mal, ob ich Fancie, Techie oder Supie bin!“
„‘Ne Superlusche vielleicht“, feixte Dicy.
„Hey!“
„Ist doch sowieso egal. Selbst wenn du ein Techie sein solltest, dann kannst du vielleicht zusammen mit Dicy in eine Gilde, ich jedoch werde immer ein Fancie sein.“ fügte V trocken hinzu.

Die Menschheit war zu dieser Zeit in drei Fraktionen geteilt.
Zum einen waren da die Fancies, künstliche Intelligenzen, die ihren Ursprung in einem Online-Rollenspiel hatten und über magische Fähigkeiten verfügten. Im Jahre 2024 fanden sie ihren Weg in die Realität und begannen damit, die Menschheit zu unterdrücken, so, wie sie es einst mit den K.I.‘s in ihrer „Spielwelt“ taten.
Dieses Schicksal der Unterdrückung und der Ausnutzung durch die Maschinen sollte einige hundert Jahre andauern. Irgendwann, um das Jahr 2400, missglückte ein Experiment eines größenwahnsinnigen Magiers, welches in Folge ein Portal zu einem weit entfernten Planeten öffnete. Dieser Planet war die Heimat der Menschen, die heute als Supies bekannt sind. Sie besaßen übernatürliche Stärke, extrem robuste Körper, unfassbare Geschwindigkeit und in der Regel eine besondere Begabung. Einige konnten das Wetter kontrollieren, andere waren in der Lage magnetische Felder zu erzeugen. Die Vielfalt an verschiedenen Fähigkeiten war schier überwältigend. Außerdem zeichneten sie sich durch ihre tadellose Rechtschaffenheit und unglaubliche Menschlichkeit aus. Dies bewiesen die sogenannten Superhelden, als sie für die Seite der unterdrückten Menschen kämpften und ihnen, nach Jahrhunderten der Gefangenschaft, ihre Freiheit schenkten.
Die damalige Menschheit nutzte ihre neugewonnenen Möglichkeiten, indem sie sich auf die Wissenschaft und den Fortschritt konzentrierten. Sie wussten, dass es neuen Technologien bedarf, um mit der Macht der Fancies und Supies mithalten zu können. Die Lösung fanden sie in den magischen Metallen Fantasias, Heimatwelt der Fancies und in ihrem, stetig wachsendem, technologischen Wissen. Sie verstärkten sich und ihre Körper, indem sie mechanische Upgrades durchführten und so ihre Kapazitäten an die, der anderen Fraktionen anpassten.

Von diesem Grundgedanken des Fortschritts inspiriert und vom nun aufkeimenden Kräftegleichgewicht zum friedlichen Agieren gezwungen, schlossen die damaligen Anführer einen brüchigen Friedensvertrag und gründeten eine Allianz, bestehend aus den drei Völkern. Um das Bündnis zu festigen, wurden die Gilden ins Leben gerufen. Organisationen, denen sich Absolventen von Akademien anschließen konnten, um fortan Missionen für ihre Fraktion zu erfüllen.
Techies formten Wissenschaftsteams und widmeten sich der Erforschung des Fremden.
Supies kümmerten sich in Superheldenligen um das Fremde, sollte sich herausstellen, dass es sich dabei um böse Monster handelt.
Und Fancies sorgten in ihren Abenteurergilden dafür, dass stets etwas Neues und Fremdes zum Erforschen parat war.

Doch Gilden, in denen es Mitglieder verschiedener Fraktionen gab, wurden in der Regel nicht toleriert, gar genehmigt. So weit schien die Freundschaft der Fraktionen dann doch noch nicht zu reichen.

„Ach, da fällt mir ein!“ erinnerte sich V. „Wir haben morgen einen Termin beim Amt für übernatürliche Aktivitäten. Man will ein letztes Mal unsere Eignung bestimmen und unsere Gildenzugehörigkeit verifizieren.“
„W-w-w-w-waaaaaaaaas?“, echauffierte Eddy sich.
„Ist das einer deiner blöden Scherze?“
„Ich fürchte nicht.“
„D-d-d-das kannst d-d-d-du doch nicht einfach f-f-f-f-für dich behalten!“
„Ich habe es euch doch eben mitgeteilt.“
„Dir ist klar, dass sie uns Teams zuteilen werden, wenn wir nicht bereits Teil von einem sind.“
„Natürlich.“
„Shit. Ich mach’ mich vom Acker.“ fluchte Dicy.
„H-h-h-halt! W-w-w-was machst du d-d-d-denn jetzt?“
„Mir was einfallen lassen.“
Mit diesen Worten und einer krachenden Tür verließ sie das Theater Hollywood.

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