The (Un)Wonted´s

Kapitel 20: Drachenfriedhof

Das Abenteuerkönigreich Fantasia

Auf Progressia gab es eine unbekannte und weitestgehend ignorierte wissenschaftliche These, die nichtsdestotrotz einen interessanten Gedanken anstieß.
Sie besagte, dass Fantasia gar keine digitale, von den Menschen erschaffene Welt, sondern viel mehr eine reale war. Und dass man lediglich, unbeabsichtigt oder nicht, eine Art Portal, einen Schnellzugang, zu dem Planeten fand. Dabei orientierte man sich an den Sternen Fantasias, welche durchaus Ähnlichkeiten zu bekannten Formationen hatten.
Die strikten Regelungen der Fancies bezüglich des Einsatzes fortgeschrittener Technik stoppten allerdings alle Bemühungen der Forscher, in diese Richtung weiterzuarbeiten.

Diese Weigerung zur Kooperation befeuerte die Wissenschaftler nur noch mehr und bewies ihnen, dass sie auf der richtigen Spur waren. Letztlich beendete man die Forschungsarbeiten aber gänzlich, nachdem dutzende Mitarbeiter und Beteiligte spurlos verschwanden und nie wieder auftauchten. Der Täter lag auf der Hand, doch die Situation wurde von den Behörden unter den Tisch gekehrt, um keine Unruhen zwischen den Fraktionen zu stiften.

Letzten Endes blieben die wichtigsten Fragen und größten Gegenpunkte der These auf ewig unbeantwortet:
„Wie konnten Datenkonstrukte, wie es die Fancies nun einmal waren, in der Natur entstehen und sich entwickelt haben?“
„Und wieso befolgten sie anfangs die Befehle der Menschheit und benahmen sich wie gehorsame K.I.‘s, wenn sie doch eigentlich eigenständige, individuelle Lebewesen waren?“
Nun, so oder so, die Antworten auf diese Fragen müssen erst noch gefunden werden.

Die (Un)Wonted’s setzten ihren Weg zum Zentrum des Drachenfriedhofs fort, nachdem sie sich eine kurze Verschnaufpause gegönnt hatten. V pfiff noch immer aus dem letzten Loch, war mittlerweile aber zumindest in der Lage, sich alleine auf den Beinen zu halten und einen Schritt vor den Anderen zu setzen. Eddy und Dicy waren zwar weitestgehend unversehrt geblieben, jedoch kämpfte Ersterer mit seiner Angst und Letztere mit ihrem übermäßigen Whiskeykonsum der letzten Stunden. Ganz davon abgesehen, dass ihre Verfassung ohnehin schon deutlich bessere Tage gesehen hatte. Das wochenlange Nächtigen im Wald der Elfen und die ständige Flucht vor eben jenen nagte an den Energiereserven unserer Helden. Wenigstens Nora machte, trotz ihres hohen Alters, einen frischen und munteren Eindruck.

Der Marsch in die Tiefen des Drachenfriedhofs stellte sich anfangs noch als überraschend einfach heraus. Ihr Pfad wurde vom grünen Funkeln, welches die magisch aufgeladenen Fasern Yggdrasils von sich gaben, erhellt. In ihr mussten sie sich auch noch nicht um etwaige Fallen oder in der Dunkelheit lauernde Monster sorgen. Doch schließlich kam es, wie es kommen musste und sie erreichten das Ende der Wurzel. Der Gang, dem sie folgten, wurde enger und enger, bis er letztlich in einer Sackgasse endete.

„Ich mach’ das schon, kein Problem“, kündigte Eddy an und krempelte seine nicht vorhandenen Ärmel nach oben.
Bevor er seinen zum Scheitern verurteilten Versuch, die Wand vor sich einzuschlagen, in die Tat umsetzen konnte, zog ihn Dicy am Kragen seines Shirts zurück.
„Lass gut sein. Wenn Mattilein das Ding nicht kleinkriegt, könn’ wir’s gleich sein lassen“, lallte sie und warf dabei die letzte Flasche ihres neuen Lieblingsgetränks beiseite.
„Mattilein? Wie viel hast du dir von dem Zeug noch reingezogen?“, fragte V.
„Nicht mehr als Eddy!“
Dieser antwortete lediglich mit einem Schulterzucken, welches weder zustimmend noch widersprechend wirkte.
„Nicht streiten, Kinder, lasst mich das ruhig machen“, lächelte Nora, wie eine liebenswürdige, alte Dame, die sie nun mal war.
Anschließend ging sie an das Ende des Ganges, legte ihre Handflächen auf das Holz und begann erneut etwas Unverständliches in einer fremden Sprache zu murmeln.

Unterdessen ging Dicy näher an V heran und zog Eddy mit sich.
„Bin ich die Einzige, die Nora irgendwie nicht so vertrauenswürdig findet, wie sie vorgibt zu sein?“, flüsterte sie.
„Ich habe auch so meine Zweifel! Wie hat sie die Geheimtür vorhin geöffnet? Woher wusste sie überhaupt von ihr?“, entgegnete V ebenso leise.
„Kennst du die Sprache, die sie benutzt?“
„Nicht wirklich. Klingt nach einer alten, magischen Sprache. Vielleicht Runen? Aber die Kombination von Wörtern ergeben keinen Sinn! Möglicherweise verbotene Magie, Nekromantie oder so. Ich müsste sie länger analysieren und mit Schriftstücken zu Hause vergleichen, um …“
„Du hast also keine Ahnung?“, unterbrach sie genervt.
„Nein“, seufzte er. „Ich hab keinen blassen Schimmer.“
„Also, ich find’ sie klasse! Sie ist so nett und lieb, erinnert mich irgendwie an meine eigene Oma“, hing sich Eddy in das Gespräch.
„Muss schön sein, du zu sein“, kicherten seine Gegenüber.

Ein kurzes Weilchen später öffnete sich die Wurzel tatsächlich ein weiteres Mal und offenbarte eine stockfinstere Höhle, die den Titel Dungeon zu Recht trug. Eddy, der endlich eine Chance witterte, von unermesslichem Nutzen zu sein, hüllte sich in sein Ki. Er versuchte, das Licht in dieser Dunkelheit zu sein, die Sonne, welche ihnen den Weg durch die Nacht wies. Eine Sonne, die nur wenige Meter nach vorn leuchtete, pausenlos flackerte und jeden Moment zu erlöschen drohte. Kurz darauf ersetzte Robb ihn, der seine Augen weit aufriss und mit den integrierten Scheinwerfern für eine beinahe blendende Helligkeit sorgte.
Eddy blickte enttäuscht und verraten in Dicys Gesicht. Er sah mitfühlend zusammengekniffene Mundwinkel, Augenbrauen, die Vergebung suchend nach unten gebogen waren und leicht nach oben gezogene Schultern, die eine einzige Nachricht übermitteln sollten:
„Sorry, Kumpel.“

Ein paar Minuten später veränderte sich dann die Struktur der Höhle. Über ihnen an der Decke schlängelte sich eine überdimensionale Wirbelsäule entlang und trug scheinbar das einsturzgefährdete Gebilde. Links und rechts befanden sich in regelmäßigen Abständen Rippenbögen, welche wie tragende Säulen, nach Vorbild eines Minenschachts, in die Steine gehauen wurden.
„Passt auf, wo ihr hintretet“, warnte Dicy. „Hier könnten überall …“
Ein leises Klicken unter Eddys Füßen unterbrach die Techie in ihrer Aussage.
„Uppsie!“
Plötzlich begann hinter ihnen ein leises Poltern immer lauter zu werden, bis es schließlich krachte und rumpelte, als würde jeden Moment ein Steinbrocken auf sie fallen. Und das passierte auch.

Die nächsten zweieinhalb Stunden flüchteten die (Un)Wonted’s vor allerlei Gedöns, dass sich ihnen in den Weg stellte. Dabei löste Eddy eine unglaubliche Vielzahl an verschiedensten Fallen aus, sodass man einfach nicht umher kam, die Kreativität des Architekten lobend zu erwähnen. Zuerst stürzte er im Minutentakt in unzählige Fallgruben, auf deren Boden spitze Pfähle oder hochgiftige Schlangen auf ihn warteten. Wie auch immer diese Reptilien jahrhundertelang am Grunde dieser Gruben überdauern konnten. So oder so verdankte er es Dicys schnellen Reflexen und akrobatischen Flugkünsten, nicht als Schaschlik oder Wildtierfutter geendet zu sein.

Kurz darauf änderte sich die Natur der Hindernisse und er war selbstständig in der Lage, die ihm entgegenkommenden Gefahren zu bewältigen. Egal ob von links oder rechts unaufhörlich Pfeile auf ihn schossen oder pendelnde Beile ihn zu enthaupten drohten, er überwand sie alle. Seinen Begleitern, welche hinter ihm waren und dieselben Herausforderungen bestehen mussten, wäre es natürlich lieber gewesen, wenn er sie von vornherein erst gar nicht ausgelöst hätte. Aber das war scheinbar zu viel verlangt.

Und als wäre all das noch nicht genug, lotste er die Gruppe ständig auf die falschen Wege, die sie nicht in das Zentrum des Dungeons führten, sondern viel mehr in die Nester fieser Monster. So räucherten sie einen Goblinbau aus, trieben Skelette und Ghoule an den Rand des Aussterbens, obwohl sie ja bereits tot waren und mähten durch die Reihen der Basilisken und Salamander, als gäbe es kein Morgen. Doch letzten Endes, entgegen allen Erwartungen, erreichten sie scheinbar ihr Ziel.

Keuchend, schwitzend und mit ihren Kräften am Ende kamen sie an einen Krater, der ein so tiefes Loch offenbarte, dass der Stein, den V testweise hineintrat, erst nach diesem Absatz auf dem Boden aufkam. Zwei gewaltige, fossile Flügel umgaben das kreisförmige Gebilde und führten spiralförmig nach oben, bis zur Spitze des Gebirges, welches sich über ihnen befand. In den Fels geschlagene Treppen führten rundherum langsam aber sicher bis ganz nach unten. Ohne lang darüber nachzudenken, versuchte Eddy den Abstieg zu beginnen.

„Halt! Denk gar nicht … erst dran“, stoppte Dicy ihn, welche gekrümmt dastand und sich mit ihren Händen auf den Knien abstützte.
„Aber wir sind fast da!“
„Mach mal … halblang, Kumpel! Wir sind … fix und alle“, hechelte V.
„Von mir aus kann es gerne weitergehen, Kinder, hihihi“, motivierte die topfitte, alte Frau namens Nora.
„Seht ihr! Wenn sogar Nora …“
„Wer bist du wirklich, mh?“, unterbrach Dicy erneut.
Sie hielt Nora den Zeigefinger entgegen, stellte sich den anderen Arm aber noch immer zu Atem kommend in die Hüfte.
„W-w-was meinst du, Liebes?“
„Lass gut sein. Gib dir keine Mühe, spuck es einfach aus“, sagte V, der seinen Kopf nach oben streckte und tief durchatmete.

„Hihihi“, lachte die Greisin in einer Stimme, die ein schlagartiges Einsetzen des Stimmbruches ankündigte.
Schlimmer noch, sie klang, wie die tiefgepitchte Stimme eines männlichen Augenzeugens, der bei seinem TV-Auftritt nicht erkannt werden wollte.
„Wir sind so gut wie da“, setzte sie fort. „Wollen wir uns dieses Gespräch nicht vielleicht für später …?“
„Vielleicht wollen wir es ja doch lieber jetzt gleich hören, oder, Jungs?“
„Ganz deiner Meinung, Dicy!“
Dabei zielte sie mit ihrer Pistole auf Nora und V beschwor unterdessen seinen Klingenstab und nahm Kampfposition ein.
„Jetzt macht ihr aber mal halblang!“, versuchte Eddy zu schlichten. „Ihr könnt doch nicht einfach …“

Noras Augen wurden plötzlich giftgrün und sie ähnelten viel mehr dem scharfen Blick einer Schlange, als dem eines Menschen.
„Droht ihr mir, Kinder?“
In diesem Moment betätigte Dicy bereits den Abzug und feuerte eine Salve auf die verdächtige Dame. Direkt im Anschluss stürmte V auf sie zu und holte zu einem weiten Hieb aus. Hinter Nora, aus dem Gang, aus dem sie eben noch traten, zog aus heiterem Himmel ein Wind auf, der sie problemlos davon fegte. Bevor die (Un)Wonted’s überhaupt realisierten, was hier passierte, rauschte die Truppe kometenartig in das Loch, in welches sie eben noch von oben schauten. Sie fielen und fielen und verschränkten bereits gelangweilt die Arme, denn ihr Sturz sollte noch bis kommenden Freitag andauern.

Schreibe einen Kommentar